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NSU–Offizielle Informationspolitik und Aufklärungsarbeit

(Bearbeitungszeitraum: 14.06.2012 – 14.09.2012)
Am 17.07.2012 erklärte Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU, Christ Demokratische Union) mit Bezug auf die NSU-Affäre im Interview mit der Berliner Morgenpost online: „Ich stelle fest: Keines der 16 Landesämter, kein Bundesamt für Verfassungsschutz und kein BKA(Bundeskriminalamt, Anm. d. Autors) hat das verhindern können.“[1]

Bereits am 08.12.2011 schrieb die Frankfurter Rundschau auf ihrem Online Portal dem Entgegenstehendes. Demnach „war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das (Erfurter) Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.“[2]

Bezogen auf eine den Rechtsterroristen des NSU nahestehenden Person veröffentlichte die Berliner Zeitung am 19.12.2011 online Ähnliches. Das LfV Thüringen habe „seinen V-Mann Brandt über die Observationsmaßnahmen der Polizei auf dem Laufenden gehalten. Dem Neonazi sei demnach mitgeteilt worden, dass er aus einer angemieteten Wohnung in der Nähe seines Hauses heraus überwacht werde.“[3] Verhindern konnten es auch nicht die bei den Operationen zur Infiltration des THS(Thüringer Heimatschutz), eingesetzten Agenten. Zwischen 1997 und 2003 „war fast jeder zehnte Aktivist in der damaligen Neonazi-Vereinigung ein Spitzel des Verfassungsschutzes.“[4]

Aus einem Bericht des MDR(Mittel Deutschen Rundfunk) geht hervor, dass die Anordnung zur Gründung der Soko(Sonderkommission) „Rechte Gewalt“ (ReGe) im LKA(Landekriminalamt) Thüringen am 03.08.2000 durch Thüringens Innenminister erfolgte. Der Auftrag der 13 Mann starken Soko war es zu ermitteln, ob der THS einer kriminellen Vereinigung entspricht. Die Soko eröffnete 16 Ermittlungsverfahren, wovon 11 im Jahre 2001 eingestellt wurden. Die Auflösung der Soko „ReGe“ erfolgte am 12.03.2002. Die Staatsanwaltschaft Gera stellte ca. ein Jahr später ihre Ermittlungen gegen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe ein. In dem 266 Seiten langen Bericht wird die Soko „ReGe“ nicht erwähnt und Schäfer kritisierte die Nichtexistenz einer solchen Soko mit der Begründung, dass die „Zielfahndung fachlich und personell nicht in der Lage gewesen sei, die drei in den gut vernetzten Strukturen der damaligen Neonazi-Szene zu finden“, schreibt der MDR.[5]

„Richtig wäre aus Sicht der Kommission gewesen, gegebenenfalls eine Soko zu gründen und die Beamten dieser Einsatzgruppe, wie bisher mit den Ermittlungen gegen das Trio, jetzt auch mit der Suche nach dem Trio zu beauftragen.“, äußert sich Schäfer dem MDR nach in dem Gutachten. Dies erscheint fragwürdig, denn, das „Thüringer LKA teilte MDR THÜRINGEN mit, dass das Ministerium der Kommission im April dieses Jahres Unterlagen zu dieser Soko „ReGe“ übergeben habe.“[6]

Das Gutachten von Schäfer et al. betont jedoch einen Verdacht des Zurückhaltens von Informationen. In dem Gutachten wird das Arbeitspapier des späteren Zielfahndungsleiters, abgefasst am 14.02.2001, referenziert. Darin heißt es: „Die Zusammenarbeit mit dem LfV(Landesamt für Verfassungsschutz, Anm. d. Autors) Sachsen ergab eine unterschiedliche Informationsübertragung und den Verdacht, dass durch das TLfV Thüringen wichtige Fahndungsdaten zurückgehalten werden.“[7]

Im Gegensatz dazu deckt die Zeitung Stuttgarter Nachrichten vom 19.07.2012 das Zurückhalten von Informationen durch Regierungsmitarbeiter im Zusammenhang mit der NSU-Affäre auf. Es stellte sich heraus, dass die zuständige innenministeriale Projektgruppe erst am 17.07.2012 Informationen über die Schredder-Anordnung des BMI(Bundesministerium des Inneren) vom 14.11.2011 an den Bundestags-Untersuchungsausschuss weitergab.

Ferner legitimierte das BMI den Vorgang als eine „fristgerechte(n) Sammelanordnung für Löschungsfälle nach Ablauf der Speicherfrist“, wird ein nicht namentlich genannter Ministeriumssprecher zitiert. Die zeitliche Nähe zum Aufdecken der NSU sei ein Zufall. Im gleichen Zeitraum wurden sechs Abhörprotokolle des BfV(Bundesamt für Verfassungsschutz) aus dem Bereich Rechtsextremismus zerstört, wie das BMI gegenüber dem Blatt bestätigt.[8]

Der Verdacht Spuren würden verwischt, wird auch in der Politik geäußert. Gegenüber der Zeitung Financial Times Deutschland (FTD) sagt die Bundestagsabgeordnete Eva Högl (SPD) in Bezug auf die Aktenvernichtung, „dass etwas vertuscht werden sollte“. Die obige Begründung der „fristgerechten Sammellöschung“ zeigt zu dem eine weitere Auffälligkeit, denn, „exakt mit diesen Argumenten hatte auch das Bundesamt für Verfassungsschutz abgewiegelt“, schreibt die FTD im gleichen online Artikel über das Bekanntwerden der dortigen Aktenvernichtung.[9]

Högls Aussage wird im Zusammenhang mit dem militärischen Geheimdienst MAD(Militärischer Abschirmdienst) unterstützt. Die Zeitung Der Tagesspiegel zitiert online indirekt die Aussage eines nicht namentlich genannten Sprechers des Verteidigungsministers de Maizière (CDU): „eine Verwicklung des MAD in den Fall NSU sei ihm nicht bekannt“. Der MAD prüfte jedoch zwischen 1999 bis Mitte 2003, ob Soldaten der Bundeswehr im THS aktiv waren, heißt es der Zeitung nach weiter.[10]

Der Untersuchungsausschuss und das Innenministerium selbst nehmen eine vorsätzliche Spurenbeseitigung an. „Heute ist nachdrücklich klar geworden: Es gab eine Vertuschungsaktion“, sagte der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) gegenüber der Zeitung Frankfurter Rundschau. Ähnlich wird der Abgeordnete Wolfgang Wieland (Bündnis 90/ Die Grünen) im gleichen Artikel online zitiert, „da geht auch das Innenministerium davon aus, dass das absichtlich und planvoll geschah“.[11]

Ähnlich sieht der ehemalige Bundesrichter und Abgeordnete der Partei „Die Linken“, Wolfgang Neskovic, in der Anordnung eine „Vertuschungsabsicht“, weil die entsprechenden Datenschutzvorschriften „keine zwingenden Zeitvorgaben für eine endgültige Löschung vorschreiben“.[12]

Der Sprecher von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU, Christlich-Soziale Union), Jens Teschke, nennt die Aktion auf der Bundespressekonferenz „Angstschreddern“. „Aber Teschke wird zur gleichen Zeit ahnen, dass sich hinter dieser Schredderei etwas anderes, etwas viel Größeres, verbergen könnte als das bloße Zerstückeln und Löschen von Papier und Dateien in den Amtsstuben des Verfassungsschutzes“, ist in der Zeitung Der Tagesspiegel online zu lesen.[13]

Neben den Auffälligkeiten um die Informationshandhabung und Aufklärungsarbeit zur Causa NSU gibt es einen Aspekt der unbedingt zur Beantwortung der Ausgangsfrage gehört.
Der Präsident des BKA Jörg Ziercke bestätigte in einem Bericht vom 18.11.2011 der Zeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung eine aus dem Jahr 2005 stammende Liste mit „über 10.000 Anschriften und Namen“, die möglicherweise als „eine Art „Planungsgrundlage“ für mehrere Morde in den folgenden Jahren gedient“ habe. Eine „Todesliste“ aber sei das nicht, zitiert das Blatt online Zirke indirekt.[14]

In einem Schreiben des BKA mit dem Betreff „Schutzmaßnahmen für Mitglieder der Verfassungsorgane des Bundes“ an den Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs (SPD) vom 23.11.12, wird er über seine Person auf einer Liste, die dem NSU zugeordnet wird, informiert. Das BKA macht deutlich, dass zur „Intention der Listen“ derzeit „keine abschließenden Aussagen“ gemacht werden könnten. Der Hamburger Morgenpost liegt das Schreiben vor.[15]

Die Berliner Zeitung meldet am 18.11.11, dass Berliner Sicherheitskreise der Nachrichtenagentur dpa die Existenz eines Datenträgers bestätigen, auf dem u.a. Politiker, Kirchen, Ortsvereine von Parteien und Vereine gegen Rechts stehen. Ermittler hatten bereits in der Zwickauer Wohnung eine Liste mit 88 Posten gefunden. Auf jener Liste befanden sich u.a. der Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag und der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hans-Peter Uhl.[16]

Durch den auf online Artikeln basierenden Querschnitt über die etablierten Pressequellen respektive deren veröffentlichte Informationen im Internet betrachtet, lässt sich an der Informations- und Aufklärungspolitik zur NSU-Affäre folgendes erkennen.

Mehrmals stehen verlautbarte Informationen im Widerspruch zu anderen veröffentlichten Informationen. Es bleibt fraglich inwiefern Verlautbarungen mit diesem geringen Grad an Aktualität zur Information oder nicht gar zu deren Gegenteil beitragen. Die bekannt gewordenen Aktenvermerke zur, in denen das Thüringer Innenministerium die Festnahme des Trios auch durch Kräfte des SEK(Sondereinsatz Kommando) ablehnt, lassen die Essenz der offiziellen Version, nämlich der Unfähigkeit der Sicherheitsorgane die Terrorkampagne des NSU nicht unterbinden zu können als schwer glaubwürdig erscheinen. Hinzukommen Warnungen des Umfelds des Trios durch den TLfV und die im THS eingesetzten verdeckten Kräfte der Geheimdienste. Es kann dabei nicht ausgeschlossen werden, dass über das Umfeld auch Informationen in den NSU gelangten.

Das Zurückhalten von Informationen konnte hier ebenfalls gezeigt werden, zusammen mit der ebenfalls aufgezeigten Vernichtung von Beweismittel, erhärtet das den in der Politik geäußerten Verdacht der systematischen Vertuschung. Damit scheint ein Machtzentrum, von dem diese systematische Vertuschung ausgeht nicht abwegig. Bei der Betrachtung der vorliegenden Informationen deuten einige indiziös auf den Verdacht der Erzeugung einer gezielten Abdeckung der Angelegenheit hin. Schließlich ist die Informationslage zu den gefunden zwei Listen delikat, dennoch widersprechen sich die durch Vertreter der Sicherheitsbehörden veröffentlichte Informationen bei diesem eklatanten Gleichnis zu den geheimen Soldaten.

Der Artikel ist der 6. von insgesamt 15 in der Serie 0. Zur Gliederung dieser Serie geht es hier lang.
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[1] Vgl. Berliner Morgenpost; Warum die Ermittlungen in der NSU-Affäre so schwierig sind; 17.07.12
[2] Zitat Frankfurter Rundschau; Zwickauer Terrorzelle, Braune Landschaften in Deutschland; 08.12.2011
[3] Vgl. Berliner Zeitung; Neonazi-Trio – Fahnder arbeiteten gegeneinander; 19.12.2011
[4] Zitat Mittelbayrische Zeitung; Jeder zehnte Neonazi war V-Mann; 23.06.2012
[5] Vgl. Mittel Deutscher Rundfunk; Schäfer-Bericht verschweigt Informationen-Unbekannte Sonderkommission arbeitete im LKA; 26.07.2012
[6] Vgl. Ebenda; S. 1
[7] Zitat Schäfer et al.; Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des „Zwickauer Trios; 2012; S. 247, 248
[8] Vgl. Stuttgarter Nachrichten; Schredder-Befehl von ganz oben; 19.07.2012
[9] Vgl. Financial Times Deutschland; NSU-Affäre Innenministerium unter Vertuschungsverdacht; 19.07.2012
[10] Vgl. Der Tagesspiegel; Koalition streitet über Geheimdienste Präsident der Bundespolizei wird abgelöst; 28.07.2012
[11] Zitat Frankfurter Rundschau; Schredder-Affäre weitet sich aus; Erscheinungsdatum nicht angegeben
[12] Zitat Financial Times Deutschland; NSU-Affäre Innenministerium unter Vertuschungsverdacht; 19.07.2012
[13] Vgl. Der Tagesspiegel; Akten-Schreddern beim Verfassungsschutz Innenminister Friedrich gerät in Erklärungsnot; 20.07.2012
[14] Vgl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung; BKA-Chef Ziercke: Es gibt keine „Todesliste“ der Neonazis; 18.11.2011
[15] Vgl. Hamburger Morgenpost; Kahrs (SPD) stand auf Nazi-Todesliste!; 25.11.2011
[16] Vgl. Berliner Zeitung; Weitere Verdächtige im Visier; 18.11.2011